Mehrsprachigkeit und Interferenzen in Kochrezepten von semicolti der italienischen Schweiz im 19. Jh.

Tania Vittore | Johannes Gutenberg-Universität Mainz

«io sonno con la qualle far memoire delle tas pastesaria»

Mit diesen Worten beginnt eine private Sammlung von 22 Rezepten von Konditoreiwaren des Zuckerbäckers, Andrea Baltresca aus Bondo, einer Gemeinde im schweizerischen Kanton Graubünden. Die Rezepte wurden auf der Rückreise aus Rochefort, einer französischen Stadt, in der Baltresca gearbeitet hatte, in die Heimat verfasst. Im 19. Jh. war Frankreich für die Schweizer das beliebteste Zielland, in dem man eine Zukunft aufbauen konnte (cf. Kaiser 1988, 85). Im Falle Baltrescas handelt es sich um einen typischen Beleg von Arbeitsmigration, der wertvolle Spuren in der Mehrsprachigkeit der semicolti in der italienischen Schweiz hinterlassen hat.

Der vorliegende Beitrag ordnet sich in die Untersuchung des Fachsprachengebrauchs der semicolti in den Kantonen Tessin und Graubünden ein, in denen über viele Jahrhunderte eine sprachliche Situation der Diglossie bestanden hat (Bianconi 1989, 25-26).

In diesem Kontext konzentriert sich die Untersuchung auf Fachausdrücke und Fachtermini der Küche in der Schriftlichkeit von semicolti. Die Reihenfolge der Textbausteine ist eher „stabil‟, zuerst die Benennung der Speise als Überschrift, danach die Beschreibung der Zubereitung mit Angabe der Zutaten in chronologischer Abfolge und schließlich Backen- und Servierungsvorschlag (Schatte/Kątny 2016, 341).

massepien, biscottino, botton d’amande, bisquit ozuchero sind Benennungen von Konditoreiwaren, deren Rezepte geradezu mosaikartig geschrieben wurden. In der Tat kann man Interferenzen aus drei Sprachen auf der phonographischen und lexikalischen Ebene identifizieren. Der Dialekt der Heimatstadt des Verfassers, das Französische als Sprache des Ziellandes und das Italienische, das bereits seit dem 15. Jh. in den Kantonen Tessin und Graubünden die Sprache der Alphabetisierung war (Bianconi 1989, 63-64) greifen hier ineinander.

Die Rezeptsammlung wurde erstmals im Werk von Sandro Bianconi (2013) veröffentlicht, aber ohne sprachwissenschaftliche Analyse. Der vorliegende Beitrag schließt an die Untersuchung meiner Masterarbeit an und richtet sich auf die Systematisierung der kontaktsprachlichen Phänomene sowie eine mögliche funktionale Verteilung der involvierten Sprachen.

Bibliographie

Bianconi, Sandro (1989), I due linguaggi. Storia linguistica della Lombardia Svizzera dal ‘400 ai nostri giorni, Casagrande, Bellinzona.

Bianconi, Sandro (2013), L’italiano lingua popolare. La comunicazione scritta e parlata dei “senza lettere” nella Svizzera italiana dal Cinquecento al Novecento, Firenze-Bellinzona, Accademia della Crusca-Casagrande.

Kaiser, Dolf (1988), Fast ein Volk von Zuckerbäckern?, Zürich, Neue Zürcher Zeitung.

Schatte, Czesława/Kątny, Andrzej (2016), ,,Das Kochrezept – eine Textsorte von pragmatischer und kultureller Bedeutung‟, in: Inge, Pohl /Horst, Ehrhardt (Hrsg.), Schrifttexte im Kommunikations-bereich Alltag,Frankfurt am Main, Peter Lang, 335-367.