Mehrsprachigkeit und Interferenzen in Kochrezepten von semicolti der italienischen Schweiz im 19. Jh.

Tania Vittore | Johannes Gutenberg-Universität Mainz

«io sonno con la qualle far memoire delle tas pastesaria»

Mit diesen Worten beginnt eine private Sammlung von 22 Rezepten von Konditoreiwaren des Zuckerbäckers, Andrea Baltresca aus Bondo, einer Gemeinde im schweizerischen Kanton Graubünden. Die Rezepte wurden auf der Rückreise aus Rochefort, einer französischen Stadt, in der Baltresca gearbeitet hatte, in die Heimat verfasst. Im 19. Jh. war Frankreich für die Schweizer das beliebteste Zielland, in dem man eine Zukunft aufbauen konnte (cf. Kaiser 1988, 85). Im Falle Baltrescas handelt es sich um einen typischen Beleg von Arbeitsmigration, der wertvolle Spuren in der Mehrsprachigkeit der semicolti in der italienischen Schweiz hinterlassen hat.

Der vorliegende Beitrag ordnet sich in die Untersuchung des Fachsprachengebrauchs der semicolti in den Kantonen Tessin und Graubünden ein, in denen über viele Jahrhunderte eine sprachliche Situation der Diglossie bestanden hat (Bianconi 1989, 25-26).

In diesem Kontext konzentriert sich die Untersuchung auf Fachausdrücke und Fachtermini der Küche in der Schriftlichkeit von semicolti. Die Reihenfolge der Textbausteine ist eher „stabil‟, zuerst die Benennung der Speise als Überschrift, danach die Beschreibung der Zubereitung mit Angabe der Zutaten in chronologischer Abfolge und schließlich Backen- und Servierungsvorschlag (Schatte/Kątny 2016, 341).

massepien, biscottino, botton d’amande, bisquit ozuchero sind Benennungen von Konditoreiwaren, deren Rezepte geradezu mosaikartig geschrieben wurden. In der Tat kann man Interferenzen aus drei Sprachen auf der phonographischen und lexikalischen Ebene identifizieren. Der Dialekt der Heimatstadt des Verfassers, das Französische als Sprache des Ziellandes und das Italienische, das bereits seit dem 15. Jh. in den Kantonen Tessin und Graubünden die Sprache der Alphabetisierung war (Bianconi 1989, 63-64) greifen hier ineinander.

Die Rezeptsammlung wurde erstmals im Werk von Sandro Bianconi (2013) veröffentlicht, aber ohne sprachwissenschaftliche Analyse. Der vorliegende Beitrag schließt an die Untersuchung meiner Masterarbeit an und richtet sich auf die Systematisierung der kontaktsprachlichen Phänomene sowie eine mögliche funktionale Verteilung der involvierten Sprachen.

Bibliographie

Bianconi, Sandro (1989), I due linguaggi. Storia linguistica della Lombardia Svizzera dal ‘400 ai nostri giorni, Casagrande, Bellinzona.

Bianconi, Sandro (2013), L’italiano lingua popolare. La comunicazione scritta e parlata dei “senza lettere” nella Svizzera italiana dal Cinquecento al Novecento, Firenze-Bellinzona, Accademia della Crusca-Casagrande.

Kaiser, Dolf (1988), Fast ein Volk von Zuckerbäckern?, Zürich, Neue Zürcher Zeitung.

Schatte, Czesława/Kątny, Andrzej (2016), ,,Das Kochrezept – eine Textsorte von pragmatischer und kultureller Bedeutung‟, in: Inge, Pohl /Horst, Ehrhardt (Hrsg.), Schrifttexte im Kommunikations-bereich Alltag,Frankfurt am Main, Peter Lang, 335-367.

NAM-Släng. Young people’s multilingualism and multimodal communicative practices within the Namibian variety of German used in Social Networks

Silvia Verdiani | Università di Torino

In mediatised cultures, people are engaged in increasingly complex networks of digital and analogue media practices through which they construct, experience, and share their lifeworlds. Conversation through social networks, in fact, allows actions that are not necessarily present in the vis-a-vis verbal exchange, but which are instead specific to social networks: the sharing of various multimedia material, the option to retrieve messages related to a specific topic and the possibility to gloss it, the multimodality, and especially the spontaneous multilingualism (Verdiani 2020). Namdeutsch or NAM-Släng is a German-based non-standard variety currently widely spoken online by Namibian German-speaking youth communities, which includes loanwords from Afrikaans, English and indigenous languages (Radke 2020), its routes are to be found the South West Africa German colony settled from 1883 to 1915 in Namibia. Focussing on the social media interaction, video production and Namsläng-dictionary of the musician EES (Eric Sell), my contribution will analyse young people’s communicative and media practices within the Namibian variety of German used in Social Networks, with the aim of understanding how identities are (co-)constructed in NAM-Släng in and through social media. The research will be conducted based on the corpus Deutsch in Namibia (DNam, ‘German in Namibia’) – a new digital resource that comprehensively and systematically documents the language use of the German-speaking minority in Namibia. The corpus Deutsch in Namibia is part of The Archive for Spoken German (Archiv für Gesprochenes Deutsch, AGD) a research data centre for corpora of spoken German of the Leibniz Institute for the German language (IDS-Mannheim) (Zimmer et al. 2020).

Donauschwaben auf dem Balkan. Diachrone Einblicke in die Lexik einer deutschen Sprachkontaktvarietät

Adam Tomas | Ludwig-Maximilians-Universität München

Mein Projekt befasst sich mit zentralen Fragestellungen wie: Inwiefern ist Sprachkontakt und die daraus folgende Übertragung der Lexik in der Sprache der Donauschwaben auf dem Balkan evident? Wie viel sprachlicher Einfluss wurde an die Balkansprachen weitergegeben und wie viel Lexik wurde übernommen? Ich möchte in kurzen Umrissen die Sprachkontaktinsel der auf den Balkan migrierten Donauschwaben (Dooneschwoba) vorstellen, indem ihre hinterlassenen Spuren in Form von über 50.000 gesammelten Büchern, Briefen, Gemälden und Artefakten dargestellt werden. Die entstehende Sammlung des Apatiner Kirchenmuseums (Serbien) bezeugt die Umsiedlungsgeschichte der „Ulmer Schachteln“, ihre regionale Diversität auf dem Balkan (hier Batschka, Syrmien, Banat und Baranja) und ihre kulturelle und sprachliche Blütezeit sowie auch ihren Kampf gegen das Vergessen. 

Der zweite Teil des Vortrags widmet sich den morphologischen und lexikalischen Besonderheiten des Donauschwäbischen. Die symbiotischen Kontaktsprachen (Deutsch, Serbisch, Kroatisch, Ungarisch und Slowakisch) erlauben Einblicke in viele linguistische Divergenzen und allgemeine Entwicklungstendenzen des Donauschwäbischen (z.B. Kasusabbau, Lehnwörter, Transferenz). Zudem sollen auch die unterschiedlichen Formen von Code-Switching und Entlehnungen verglichen werden, die aus der jahrhundertelangen Mehrsprachigkeit in dieser Region entstanden sind und im Alltag (ajnfor, escajg, glanc, fašir, fruštuk, šteker, špek, rajsferšlus, vikler ), in Schulen (fah, feler, štreber), in kulturellen Einrichtungen (bina, firange, hohštapler, lampa, luster, perika) rege Anwendung fanden. Insbesondere die Mehrsprachigkeit im Militär (geverka, gevihta, haubica, kugla, pancir, šleper, špic, šuckori) und die technischen Bezeichnungen (auspuf, dihtung, kuplung, kurcšlus, feder, cangle, šlauf, šrafciger, radapciger, rikverc, rostfraj, vaservaga) können auf einen reichhaltigen Fundus hinweisen. 

Als Ausblick und Anregung zur Diskussionsrunde sollen einige Fakten dargestellt werden, wie sich die momentane Sprachsituation der deutschstämmigen Minderheit in den jeweiligen Regionen auf dem Balkan gestaltet. Migration und Mobilität waren schon seit jeher und sind bis heute die Träger von verschiedenen Sprachenkontaktsituationen und binden sooft verschiedene Kulturen und Ethnien an eine gemeinsame Lokation. Dies wird wohl auch in näherer Zukunft so blieben. Nun ist es an uns, Historikern, Soziologen und Sprachforschern, diese Kontakterscheinungen und ihre Auswirkungen zu erkennen, zu beobachten und die daraus resultierenden Folgen zu interpretieren. Folglich gilt es aufzuzeigen, welche soziolinguistischen Faktoren im Bereich Sprachkontakt und Mehrsprachigkeit für weitere Forschungen relevant sind, sowie welche Auswirkungen Mehrsprachigkeit auf die Identitätsfindung einer Sprachgemeinschaft haben kann.

Literatur [Auswahl]

Böhm, Johann: Die deutsche Volksgruppe in Jugoslawien 1918 – 1941, Frankfurt 2009.

Glass, Christian (Hrsg.): Vom “Verschwinden” der deutschsprachigen Minderheiten. ein schwieriges Kapitel in der Geschichte Jugoslawiens 1941-1955.  Ulm 2016.

Hausleitner, Mariana: Die Donauschwaben 1868 – 1948 ihre Rolle im rumänischen und serbischen Banat. 1. Aufl., Stuttgart 2014. ( Institut für Donauschwäbische Geschichte und Landeskunde).

Janjetović, Zoran: Die Bedeutung der Donauschwaben für die Geschichte der Serben. In: Schubert, Gabriella (Hrsg.): Serben und Deutsche im 20. Jahrhundert – im Schatten offizieller Politik, Wiesbaden 2015, S.17-26 

Krel, Aleksandar: „Sprechen sie Deutsch?“ German language and revitalization of ethnic identity of the Germans in Bačka“. In: Glasnik Etnografskog Instituta SANU60 (2012), S. 171–185.

Michael, Merkl (Hrsg.): Weitblick eines Donauschwaben. Dokumentation eines Abwehrkampfes 1935 – 1944 gegen nationalsozialistische Einflüsse unter den Donauschwaben in Jugoslawien und Ungarn im Wochenblatt für das katholische Deutschtum Jugoslawiens und Ungarns “Die Donau”, erschienen in Apatin (Batschka), Jugoslawien, ab 1941 Ungarn. Dieterskirch 1968.

Mirić, Slobodan: S one strane rata. Ispovesti odžačkih Švaba, Odžaci 2004.

Schubert, Gabriella (Hrsg.): Serben und Deutsche im 20. Jahrhundert – im Schatten offizieller Politik, Wiesbaden 2015. (Forschungen zu Südosteuropa Bd. 12).

Senz, Josef Volkmar: Geschichte der Donauschwaben. 7. Aufl., München 1993. (Donauschwäbische Beiträge).

Weifert, Mathias: Volksgruppenidentität, sozialer und kultureller Identitätswandel bei den sogenannten Donauschwaben (1683 – 2008), München 2013. (Donauschwäbisches Archiv, München).

Von Somsri zu Susie. (inoffizieller) Namenwechsel der Thailänder/-innen in Deutschland

Jirayu Tharincharoen | Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg

Namenwechsel ist ein übliches Phänomen in vielen Gemeinschaften. Gemäß Nübling (2021) führen verschiedene Gründe zum Namenwechsel wie Eheschließung. Auch die Migration kann sich auf den Namenwechsel auswirken. Für die Bildung eines neuen Namens entwickeln die Migrant/-innen verschiedene Strategien (vgl. Menge 2000). Dabei werden auch Strategien für den Namenwechsel begründet. Beispielsweise fällt Brendler (2002) zufolge auf, dass Chinesen/-innen einen europäischen Rufnamen als inoffziellen Namen aufgrund der Ausspracheerleichterung beim Kontakt zu Ausländer/-innen auswählten.

Jedoch bleibt bislang kaum erforscht, ob der Sprachkontakt auch für die Namenstruktur beim Namenwechsel verantwortlich ist. Daher fokussiert dieser Beitrag auf die Namenstruktur der neuen inoffiziellen Namen der Thailänder/-innen in Deutschland. Außerdem wird untersucht, aus welchen Gründen die jeweilige Namenstruktur ausgewählt wird.

Thailand ist hinsichtlich der Namengebung von großem Interesse, denn den meisten Thailänder/-innen wird ein kürzerer Spitzname, der meist keinen Bezug zum Vornamen hat, verliehen. Es stellen sich daher weitere Fragen, ob der thailändische Spitzname einen Einfluss auf die Bildung eines neuen Namens ausübt. Für die qualitative Untersuchung wurden 97 Thailänder/-innen in Deutschland, die einen neuen Namen tragen, interviewt.

Bezüglich der Namenstruktur zeigt sich, dass 38 Interviewte einen europäischen Kurz- bzw. Vollnamen auswählten, der eine phonologische Ähnlichkeit mit ihrem alten Namen aufweist wie Supannee > Susie. Außerdem fügen 35 Thailänder/-innen ihrem alten Namen hypokoristische Elemente hinzu wie –i Diminutivsuffix in Thip > Thippi. Weiterhin nehmen 20 Thailänder/-innen Appellativa als ihren neuen Namen wie Lek > Lecker

Als Gründe für die Auswahl der einzelnen Namenstruktur wurde die Ausspracheerleichterung beim Kontakt zu Deutschen am häufigsten für die Namenbildung mit –i Diminutivsuffix sowie europäische Namen erwähnt. 

Insgesamt lässt sich festhalten, dass der Sprachkontakt zur Bildung eines neuen inoffiziellen Namens führt. Dies zeigt sich im Muster ‚Thailändischer Spitzname + -i Diminutivsuffix‘. Weiterhin findet sich auch die Übernahme der europäischen Voll- bzw. Kurznamen als neuer Name.

Literaturverzeichnis

Brendler, Silvio (2002): Namengebung und Namengebrauch chinesischer Angestellter in der englischsprachigen Kommunikation in einem Unternehmen mit multikultureller Belegschaft. In: Beiträge zur Namenforschung 37, S. 45-59.

Menge, Heinz (2000): Namensänderungen slawischer Familiennamen im Ruhrgebiet. In: Niederdeutsches Wort 40, S. 119-132.

Nübling, Damaris (2021): Bewegte und bewegende Namen. Lebensabschnittsnamen als Marker biografischer Transition. In: Beiträge zur Namenforschung 56, S. 17-40.

Multiethnolektales Zürichdeutsch: Dialekttransformation und soziolinguistische Wahrnehmung

Stephan Schmid, Marie-Anne Morand & Sandra Schwab | Universität Zürich

Die Migrationslinguistik [1] beschäftigt sich mit einer Vielfalt von Sprachkontakt­phänomenen – darunter die Bewahrung der Herkunftssprachen [2], die zweisprachige Rede bei Migranten­kindern [3] oder der spontane Zweitsprachwerb bei Erwachsenen [4]. Seit der Jahrtausend­wende stehen aber unter dem Begriff ‘Multiethnolekt’ [5, 6, 7] vermehrt auch Sprechstile von Jugendlichen mit Migrationshintergrund im Fokus der soziolinguistischen Forschung. Der vorliegende Beitrag untersucht multiethnolektales Zürichdeutsch aus der Perspektive einer ‘perzeptiven Varietätenlinguistik’ [8] und geht dabei der Frage nach, inwieweit die sozio­linguistische Wahrnehmung solcher Sprechweisen mit gewissen sprachlichen Merk­malen einhergeht, die im multiethnolektalen Zürichdeutsch beobachtet werden können.

Die Ergebnisse eines Einschätzungsexperiments weisen darauf hin, dass multi­ethno­lektales Sprechen nicht kategorial, sondern eher im Sinne eines Kontinuums wahr­genommen wird  (ein aus der soziophonetischen Migrationslinguistik bekannter Befund [9]). Das Wahr­nehmungs­kontinuum zwischen traditionellem und multi­ethno­lektalem Zürich­deutsch korreliert zudem mit der Ausprägung gewisser Variablen, die in der Sprach­pro­duktion der Jugendlichen auftreten.

Die hier untersuchten Merkmale sind haupt­sächlich phonetischer, zum Teil aber auch lexikalischer Natur. Auf der phonetischen Ebene zeichnet sich multiethnolektales Sprechen z.B. durch Fortis-Frikative im Wortanlaut auf (welche im traditionellen Zürichdeutsch aufgrund einer phono­taktischen Beschränkung aus­geschlossen wären) sowie durch eine geringere Variabilität von Vokaldauern. Im lexikalischen Bereich verwenden Jugendliche, deren Sprech­weise von Gleichaltrigen als eher multiethnolektal eingeschätzt wird, einzelne Wort­formen, die insbesondere aufgrund ihrer Lautgestalt eine Art Hybridisierung zwischen Zürichdeutsch und Standarddeutsch darstellen – auch dies eine Erscheinung, die bei traditionellen Sprech­weisen aufgrund der schweizer­deutschen Diglossie mit ihrer klaren Abgrenzung zwischen Dialekt und Standard­varietät kaum erwartbar wäre.

Anhand von soziophonetischen Variablen und lexikalischen Misch­formen lässt sich im multiethnolektalen Zürichdeutsch somit eine Art ‘Dialekttransformation’ [10] ausmachen, die einerseits auf eine heterogene Spracherwerbssituation zurückzuführen ist, andererseits aber auch als Ausdruck einer multikulturellen Identität interpretiert werden kann.

Literaturangaben

[1] Krefeld, T. (2004). Einführung in die Migrationslinguistik. Tübingen, Gunter Narr.

[2] Autor

[3] Auer, P. 1984. Bilingual conversation. Benjamins, Amsterdam.

[4] Purdue, C. (Ed.), Adult language acquisition: Cross-linguistic perspectives. Cambridge, Cambridge University Press.

[5] Clyne, M. (2000). Lingua franca and ethnolects in Europe and beyond. Sociolinguistica 14: 83-89.

[6] Auer, P. (2003). ‘Türkenslang’: Ein jugend­sprachlicher Ethnolekt des Deutschen und seine Transformationen. In: A. Häcki Buhofer (Ed.), Spracherwerb und Lebens­alter. Tübingen, Francke: 255-264.

[7] Freywald, U., Mayr, K., Özçelik, T. & Wiese, H. (2011). Kiezdeutsch as a multiethnolect. In: F. Kern & M. Selting (Eds.), Ethnic styles of speaking in European metropolitan areas. Amsterdam, John Benjamins: 45-73.

[8] Krefeld, T., & Pustka, E. (2010). Für eine perzeptive Varietätenlinguistik. In: T. Krefeld & E. Pustka (Eds.), Perzeptive Varietätenlinguistik. Bern, Peter Lang: 101-129.

[9] Pustka, E. (2007). Phonologie et varietés en contact. Ayeronnais et Guadeloupéens à Paris. Tübingen, Gunter Narr.

[10] Autor

Die Entwicklung der tun-Periphrase im Barossadeutschen: Zwischen Temporalität und Aspektualität

Anna Saller | Universität Regensburg

Das Barossadeutsche in Australien steht kurz vor dem Sprachwandel und zeigt viele Phänomene der Spracherosion, darunter auch die Konstruktion tun + Infinitiv. Neben der Verwendung in Konditionalsätzen (1), im Konjunktiv (2) und zur Betonung (3) wird oft ein habitueller (4) oder generell imperfektiver Charakter für die tun-Periphrase diskutiert – oder sie wird als semantisch leere, syntaktische Variante betrachtet.

1. wenn du sie nicht sprechen tust, vergisst du sie
2. ich täte mich beeilen, wenn ich du wäre
3. sie tut sich ja Mühe geben
4. wir tun immer sonntags Kaffee trinken

Eine diachrone Untersuchung des Barossadeutschen auf der Basis spontaner Sprach-verwendung in narrativen Interviews zeigt, dass das periphrastische tun in den 1960er/70er Jahren sowohl im Präsens als auch im Präteritum verwendet wurde, während es zwischen 2009 und 2014 fast ausschließlich im Präteritum vorkam. Der erste Datensatz stammt aus dem Monash Corpus of Australian German von Prof. Dr. M. G. Clyne (zugänglich über die Datenbank für gesprochenes Deutsch). Der zweite Datensatz wurde von Prof. Dr. C. M. Riehl aus ihrem Projekt Barossa-Deutsch als Reliktvarietät zur Verfügung gestellt.

Da das Präsens von Natur aus eine imperfektive Lesart produziert, liegt die Vermutung nahe, dass die Kombination ‘Vergangenheit’ + Imperfektivität markiert ist und die tun-Periphrase für diese semantische Nische des Habitual Past verwendet wird (Klemola stellte dies auch für den südwestenglischen Dialekt in Somerset fest). Folgende Beispiele sollen dies veranschaulichen:

5. er tat mir immer Briefe schreiben
6. jeder hier tat Mandeln anbauen

Eine Analyse der situativen Kontexte, in denen die tun-Periphrase verwendet wird, aber auch ein Blick auf das synthetische Präteritum und das Perfekt sollen klären, ob sich die tun-Periphrase im Laufe der ca. 50 Jahren tatsächlich zu einem Habitual Past oder zu einer generellen Präteritumsersatzform entwickelt hat und wie sich die tun-Periphrase in den Entwicklungsverlauf schwindender Varietäten einpasst.

Literatur (in Auswahl)

Bybee, J., R. Perkins & W. Pagliuca (1994). The Evolution of Grammar. Tense, Aspect, and Modality in the Languages of the World. Chicago, London: University of Chicago Press.

Comrie, B. (1976). Aspect. An Introduction to the Study of Verbal Aspect and Related Problems. London, New York, Melbourne: Cambridge University Press.

Klemola, J. (1998). Semantics of do in southwestern dialects of English English. In: Tieken-Boon van Ostade, I., M. van der Wal & A. van Leuvensteijn (eds). Do in English, Dutch and German. History and Present-Day Variation. Münster: Nodus, 25–52.

Riehl, C. M. (2015). Language attrition, language contact and the concept of a relic variety: the case of Barossa German. In: International Journal of the Sociology of Language 236, 261–293.

Strategien zum Sprachmanagement und die Vielfältigkeit der Informationsquellen zur bilingualen Erziehung in russischsprachigen Migrantenfamilien in Deutschland

Anna Ritter | Universität Regensburg
Tatjana Kurbangulova | Universität Greifswald
Veronika Wald | Universität Bamberg

Die vorliegende Studie beschäftigt sich mit der Kommunikation von russischsprachigen Migrantenfamilien in Deutschland. Im Fokus liegen die Strategien zum Sprachmanagement zwischen Eltern und Kindern sowie deren Informationsquellen zur bilingualen Erziehung (vgl. Schwarz/Verschik 2013, Nekvapil/Sherman 2015). Im Rahmen des Vortrages werden folgende Forschungsfragen gestellt:

  • Wie sind die Einstellungen der Eltern zur Situation der Zweisprachigkeit in den eigenen Familien?
  • Welche Strategien zum Spracherhalt und -transfer werden von den Eltern verwendet?
  • Woher beziehen die Eltern ihre Informationen zum Thema bilingualer Erziehung?

Als Grundlage zur Beantwortung dieser Fragen dient die Analyse von soziolinguistischen Online-Fragebögen aus 219 russischsprachigen Familien mit insgesamt 381 Kindern, in denen die Eltern selbst über Migrationserfahrung verfügen und die meisten Kinder bereits in Deutschland geboren wurden. Die Fragebögen wurden qualitativ und quantitativ ausgewertet.

Die Analyse zeigt, dass 94% der Befragten eine positive Einstellung zur Zweisprachigkeit in der eigenen Familie haben. Jedoch nur 83% auch an der bilingualen Erziehung ihrer Kinder interessiert sind. In den Fragebögen wurden den Befragten 20 unterschiedliche Strategien des Spracherhalts und -transfers zur Auswahl gestellt. Zu den drei populärsten Strategien gehören das Vorlesen von russischen Büchern, das gemeinsame Anschauen von Filmen, Zeichentrickfilmen oder Fernsehsendungen sowie das Hören von Liedern auf Russisch. Für die Informationsfindung zur bilingualen Erziehung tauschen sich die meisten Eltern mit ihren Freunden aus, die sich in einer ähnlichen Situation befinden, lesen entsprechende populärwissenschaftliche Literatur oder suchen Foren und Webseiten im Internet zu diesem Thema.

Literaturquellen:

Nekvapil, Jiří & Sherman, Tamah (2015): An introduction: Language Management Theory in Language Policy and Planning. In: International Journal of the Sociology of Language 232, 1–12.

Schwartz, Mila & Verschik, Anna (Hrsg.) (2013): Successful Family Language Policy. Parents, Children and Educators in Interaction. Dordrecht/Heidelberg/New York/London: Springer.

„Das” ostbelgische Deutsch – Zwischen Standard und regionaler Varietät

Verena Rasp | Ludwig-Maximilians-Universität München
Gabriel Rivera Cosme | Université du Luxembourg

In Belgien, einem territorial mehrsprachigen Staat, ist Deutsch die Erstsprache (L1) von einer Minderheit (ca. 0,6% der Gesamteinwohnerzahl) im offiziell deutschsprachigen Gebiet im Osten des Landes. Nicht zuletzt durch die in den letzten Jahren ständig wachsende Autonomie dieses Gebietes (= Ostbelgien) spielen sowohl das Deutsche als Sprache als auch die belgische Nationalität für die meisten Einwohner Ostbelgiens eine wichtige, identitätsstiftende Rolle. Zu dieser kulturellen und politischen Entwicklung hat die Anerkennung von drei Sprachgemeinschaften in Belgien beigetragen, die in eine mehrsprachige Bildungspolitik in Ostbelgien gemündet ist. Diese verfolgt einerseits das Ziel, Deutsch als L1 zu bestärken, andererseits parallel dazu aber auch Französisch als erste Fremdsprache in höchstem Maße zu fördern.

Nach der mittlerweile etwa 100 Jahre alten politischen Trennung des Gebietes von Deutschland, lässt sich nun durchaus die Frage stellen, inwieweit sich ein besonderes ostbelgisches Deutsch entwickelt hat und welche Einstellungen die Bevölkerung gegenüber jenem hat. Der Ausgangspunkt dieser Frage ist das Zusammenspiel zwischen Sprache und Identität, welche im Falle Ostbelgiens in eine Art Migrationsnetzwerk, bestehend aus den angrenzenden Gebieten Belgiens, Deutschland und Luxemburg, eingebunden sind und von diesem bestimmt werden.

Das Ziel dieses Vortrags ist, eine Analyse über jenes Zusammenspiel von Sprache und Identität durchzuführen und der Frage nachzugehen, ob und wie sich ein spezifisches ostbelgisches (Standard-)Deutsch definieren lässt, durch welche sprachlichen Kontakteinflüsse es geprägt ist und wie es von unterschiedlichen Standpunkten aus betrachtet wird.

Literatur

Boemer, Magali & Darquennes, Jeroen (2012): Towards a historical sociolinguistic account of language-in-education policy in the German-speaking community of Belgium. In: Dutch Journal of Applied Linguistics 1, 2, 219-235.

Bouillon, Heinz (2019): Deutsch in Ostbelgien. In: Beyer, Rahel/Plewnia, Albrecht (Hgg.), Handbuch des Deutschen in West- und Mitteleuropa. Sprachminderheiten und Mehrsprachigkeitskonstellationen. Tübingen: Narr, 47-70.

Küpper, Achim; Leuschner, Torsten & Rothstein, Björn (2017): Die Deutschsprachige Gemeinschaft Belgiens als emergentes Halbzentrum: Sprach- und bildungspolitischer Kontext – (Sub-)Standard – Sprachlandschaft. In: Zeitschrift für deutsche Philologie, 136 (Sonderheft), 169-192.

Möller, Robert (2017): Deutsch in Ostbelgien – Ostbelgisches Deutsch? In: Davies, Winifred V./Häcki Buhofer, Annelies/Schmidlin, Regula/Wagner, Melanie M./Wyss, Eva Lia (Hgg.), Standardsprache zwischen Norm und Praxis. Theoretische Betrachtungen, empirische Studien und sprachdidaktische Ausblicke. Tübingen: Narr Francke Attempto, 89-120.

Language and Literacy Development in Refugee Children: Insights into Acquisition Processes from a Comparative Canadian-German Study

Katrin Lindner | Ludwig-Maximilians-Universität München

Among migrating people refugees form a very special group.  The United Nations High Commissioner for Refugees defines them as those who are residing outside their country and cannot return due to well-founded fear of persecution on the basis of race, religion, nationality, political opinion, or membership in a particular social group (United Nations High Commissioner for Refugees, 2002). While the development of children from immigrant families has been studied quite extensively, refugee children have not received much attention, especially their language and literacy development (cf. Crago & Hayes-Herb, 2020).

The paper will report on two transnational studies comparing Syrian refugee children in Toronto, Canada, and in München, Germany: a pilot study in 2018 and a follow up study in 2019.  Five families with 9 children participated in Canada and three families with 11 children in Germany. All families arrived in the respective countries in 2016.  A mixed method design was used:  testing students’ language and literacy skills in their first (L1) and second language (L2) and interviewing extensively parents as well as students aged 12-16 years about their learning conditions in order to find out more about their challenges and needs. In addition, their teachers were interviewed about students’ development.

Clearly, there are a number of contextual factors which distinguish the situation for refugees in Canada and in Germany (Bavaria), e.g. in contrast to Germany, in Canada permanent residence status is extended to all newcomers. Yet, despite these differences all children were similar in their low performance in academic language tests like vocabulary and word reading tests in both L1 and L2. In contrast, some of them achieved high scores in their narrative skills. Teachers reported that many of these children are highly motivated to learn but all of them are less focused and concentrated in class. Some of these findings will be discussed.

References

Crago, M. & Hayes- Herb, R. (2020). Special issue: The Language, Literacy and Social Integration of Refugee Children and Youth. Applied Psycholinguistics 41 (6). 

United Nations High Comissioner for Refugees. (2002). Protecting refugees: Questions and answers. Retrieved from:               https://www.unhcr.org/publications/brochures/3b779dfe2/protecting-refugees-questions-answers.html.

Language shift among West Indian Panamanians

Catherine Laliberté | Ludwig-Maximilians-Universität München

Between 1850 and 1914, thousands of anglophone Caribbean workers migrated to Panama to build the Panama Railroad and the Panama Canal, as part of the most significant trans-Caribbean movement the region had ever seen (see Conniff 1985, Senior 2014). Today, many of their descendants are Panamanian citizens and constitute a small linguistic minority of English users, all of whom also speak Spanish fluently. The research presented here focusses on the bilingual West Indian population of Panama City and aims at describing and explaining the process of language shift towards Spanish monolingualism which the community is undergoing.

Answers to a language choice questionnaire administered to 90 bilinguals in 2019 give an overview of the domains in which both languages are used by individual speakers and show a striking generational decline of English-only interactions. These findings correspond to my observations in the field and statements by speakers themselves, whereby users of English are rather elderly and the use of English is generally limited to the family circle and religious settings.

The shift is traced to the rather unique sociolinguistic history of West Indian Panamanians. For most of its existence, the community essentially straddled two countries: the Republic of Panama and the Canal Zone, the U.S.-controlled territory which bisected the isthmus for most of the 20th century and in which thousands of people of West Indian descent lived and worked. In its fight to establish its nationhood and regain sovereignty over the Canal Zone, Panama developed a sense of national identity which was fundamentally anti-West Indian (Guerrón Montero 2020) and, I argue, steeped in linguistic nationalism and anti-bilingualism in particular.

References

Conniff, Michael L. 1985. Black labor on a white canal: Panama, 1904-1981. Pittsburgh: University of Pittsburgh Press.

Guerrón Montero, Carla. 2020. From temporary migrants to permanent attractions: Tourism, cultural heritage, and Afro-Antillean identities in Panama. Tuscaloosa: The University of Alabama Press.

Senior, Olive. 2014. Dying to better themselves: West Indians and the building of the Panama Canal. Kingston: The University of the West Indies Press.